Herbst


Von Bernd Erich Gall

Das Mädchen beobachtet den Säufer. Er sitzt ihm gegenüber, rülpst vor sich hin und leckt wie ein Hund an einer halbvollen Weinflasche. Seine Augen glänzen. Er schenkt ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit.

Ein Schaffner schiebt sich durch den engen Gang und greift mit emsigen Fingern nach bedrucktem Papier, nickt, hüstelt, knipst und hüpft weiter. Vor dem Säufer fallen seine Hände ins Leere. Der Säufer rülpst ihm ins Gesicht.

Der Schaffner wirft dem Mädchen einen verlegenen Blick zu. Indessen hebt der Säufer den Kopf, lächelt verschmitzt und kotzt dem Schaffner über seine zerknitterte Uniform. Der Schaffner ist fassungslos, bleibt wie angewurzelt stehen, öffnet den Mund und bekommt keinen Ton heraus.

Der Säufer brummt etwas Unverständliches vor sich hin. Er versucht auf die Beine zu kommen. Lallend torkelt er zum Fenster, öffnet es und wirft die Flasche im hohen Bogen nach draußen. Der Fahrtwind trägt ihm ein goldenes Blatt in sein Haar. Er nimmt es zwischen seine zittrigen Finger, lächelt sanftmütig und blickt sehnsüchtig nach draußen. Niemand im Abteil sagt auch nur ein Wort, denn alle wissen, dass bereits alles gesagt ist, und dass der Herbst wieder mal begonnen hat.


Bernd Erich Gall: Malbuch eines Idioten, 2006 · 06-02-23 · www.bernderichgall.de