© Bernd Erich Gall · 2004/5 · gall@bernderichgall.de



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Blaue Sprünge aus tiefem Turm · Environment eines ephemeren Daseins



Erzählung in Form eines Environments - mit Bezügen zu
Leinwandarbeiten, Objekten, Videoarbeiten, Installationen





Von Bernd Erich Gall




1



»Der Beginn der Verharmlosung eines Daseins fällt gelegentlich auf Tage, die mit dem Verlangen nach Wesensverlust überfrachtet sind. Ort und Zeit spielen an jenen Tagen eine untergeordnete Rolle. Allein die experimentelle Verhaltensweise einer ins Zentrum gerückten Persönlichkeit entscheidet über die Gradation jener Persönlichkeitsveränderung.«
So spricht Peter Korn, wenn er spricht? Er hält nichts von der großen inneren Welt eines Marcel Proust, denn er hasst Koordinaten, hasst Orte, die berechenbar sind. Er, der tragische Held unserer Geschichte, liebt das Spiel, die Sinnentfremdung, die Selbstvergessenheit. Joyce und Faulkner sind ihm gänzlich unbekannt.
Der Wunsch nach Veränderung und Umwälzung erreicht Korn täglich. Seine Methodik ist die Belebung infantiler, zweckfreier Verhaltensweisen. Banalitäten nimmt er mit Entzücken wahr, gibt sich ihnen arglos hin, ohne sich schuldig und plump zu fühlen. Er liebt Irrfahrten, doch behält er sich selbst spielerisch im Auge. So auch beim Betreten einer Frühlingswiese im Monat Mai.

Zwischenspiel 1: How to enter a (mossy) spring-meadow in the month of May · Mossy Meadow, 1998 · koloriertes Moos, Öl, Pigmente · 53 x 37 x 6 cm (Objekt 311).
Das Betreten einer Frühlingswiese ist für einen feinfühligen Menschen eine Form der Vergegenwärtigung seiner Empfindungen unter dem Blickwinkel der Konfrontation des schier Belanglosen mit der Gewalt der versteckten Zeichen innerhalb des undurchdringbaren Gefüges zwischen Mensch und Natur. Es ist ratsam, konventionellen Denk- und Verhaltensweisen eine Absage zu erteilen, auch gerade dann, wenn es darum geht, seine Umwelt mehrdeutig wahrzunehmen.
Für Peter Korn hängt die Art des Betretens einer Frühlingswiese im Monat Mai von deren Eigenfarbe ab. Für ihn existieren blaue, gelbe und graue Frühlingswiesen. Ihre Farben sind eindeutige Signale einer feinfühligen, sensiblen Natur an ihre Entsprechung im Menschen.
Bei blauen Wiesen heißt es, rasch und zügig in geraden Linien die Wiese betreten. Die ersten Schritte müssen überfallartigen Charakter haben, die folgenden den, massiver Entschlossenheit. Blau, die Farbe der Ferne verträgt Schnelligkeit, und gegrüßt sei der Wanderer, der Vagabund, der Fänger fahrender Horizonte. Weite Schritte, hartes Schuhwerk, lebendige Gangart sind von Vorteil. Auf blauen Wiesen krähen Raben. Lande- und Startplätze von Segelfliegern befinden sich ausschließlich auf blauen Wiesen, und blaue Wiesen verhalten sich im undurchdringlichen Gefüge der Natur äußerst zurückhaltend.
In eine gelbe Wiese einzutreten, ist eine Kunst und verlangt viel Einfühlungsvermögen. Vorweg sei gesagt, dass nur gelbe Wiesen in der Lage sind, Laute von sich zu geben, und gerade jene Laute gilt es, als Signale wahrzunehmen. Mit nackten Füßen spüre ich jeden Grashalm, jede Blume und alles, was eine gelbe Wiese ausmacht. Jeder Schritt erfolgt zögernd, tastend, spannungsreich. Es ist unmöglich beim Betreten einer gelben Wiese eine Richtung festzulegen, denn gelb ist die Farbe der Richtungslosigkeit. Auf gelben Wiesen, krähen keine Raben; in gelben Wiesen baden Zitronenfalter. Auch hüten gelbe Wiesen eine Menge Geheimnisse. Segelflieger dürfen gelbe Wiesen nicht überfliegen.
Auf grauen Wiesen hat man das Gefühl auf der Stelle zu treten. Geeignetes Schuhwerk sind: Straßenschuhe, Sportschuhe, Wanderstiefel. Graue Wiesen sind hart und unverwüstlich. Alles liegt nahe beieinander, und sie geben wie blaue Wiesen keine Laute von sich. Es gilt auf nichts zu achten. Sanft oder hart, schnell oder langsam, tief oder flach, es ist eine schiere Unmöglichkeit, einen falschen Schritt zu tun. Graue Wiesen haben leblosen Charakter, erscheinen dem Betreter in einer vermeintlich tiefen Bewusstlosigkeit. Ihre Gräser und Blumen bewegen sich selbst bei kräftigen Winden. Auf graue Wiesen fallen die Schatten der gelben und blauen Wiesen. Auf ihnen spielt es sich gut, und oft sind graue Wiesen in der Nähe von Tennisplätzen. Auf grauen Wiesen landen und starten Raben, aber lautlos, und sie krähen nicht wie auf blauen Wiesen. Segelflieger meiden graue Wiesen, und landet eine Grille auf einer grauen Wiese, bleibt sie für ewig stumm.

Aufgetaute Lippen hängen unter seinen verschlafenen Augen, er schnalzt mit der Zunge, und stets ein Lächeln im Gesicht. Peter Korn ist unterwegs: hager, zerbrechlich, lange dürre Beine, abstehende Ohren. Ein nervöses Zucken geistert um seine Mundwinkel. Ein guter Tag.
»Basta, hast du Lust in die Stadt mitzukommen? Ich treffe mich mit Ria. Es hat aufgehört zu regnen.«
Seine Stimme verliert sich in einer Art Selbstgespräch. Er ist sich der Tragweite seiner Worte bewusst: Niemand da, der ihm zuhört. Die Vergangenheit ist allgegenwärtig – er spricht mit ihr, spricht mit sich selbst und am Ende fährt er in die Stadt, und sie sitzt neben ihm. Um ihr schräge Blicke nachzuwerfen, haarscharf an ihr vorbeizugehen, ihr zweideutige Angebote zu machen, dafür wird er sie mitnehmen. Und trotzdem weiß er, dass es sie so nicht gibt, nicht so aber anders, und damit gibt er sich zufrieden.
»Wir nehmen den Alfa.« Die Tür fällt ins Schloss.

Richtung Westen. Er fährt, und immer wenn er fährt, ist Westen seine Richtung. Andere Richtungen langweilen ihn. Sie lassen ihm keine Wahl. Der Bäcker an der Ecke hat wieder mal geschlossen. Es ist Mittwoch, ein beschissener Tag. Basta sitzt still und verschlafen im Beifahrersitz und betrachtet sich im Rückspiegel. Korn hat zu kämpfen. Seine Blickrichtung ist die, der maximalen Horizontentfernung. Die Straße interessiert ihn nicht. Etwas wie ein Magnet hält ihn auf der Fahrbahn und Basta weiß das, sie ist kein bisschen ängstlich.
»Ein guter Tag, Basta, wir haben heute einen guten Tag erwischt, schau dir diesen Westen an. Er ist einfach so, wie er ist, ich meine eigentlich muss es nur diese eine Richtung geben um anzukommen, nicht wahr.«
»Blödes Geschwätz«, summt Basta vor sich hin, »blödes Geschwätz. Was mich interessiert ist, ob wir heute noch ankommen.«
Sein Alfa schlängelt sich durch eine kurvenreiche Waldstrecke. Früher konnte Korn diese windschlüpfrigen Schlitten nicht ausstehen. Heute schwärmt er von italienischen Sportwagen.
»Hat da jemand was gesagt?«
Basta legt ihre Hand auf sein Knie. Es ist reine Gewohnheit, hat nichts zu bedeuten. Er mag es, wenn sie während der Autofahrt an ihm herumspielt.

Zwischenspiel 2: It puzzles me · How 2 Disappear, 2002 · Video, 2’47 min. Das Spiel eignet sich für längere Autofahrten. Zwei Spielpartner (z.B. Fahrer/in und Beifahrer/in) geben Prognosen über die Häufigkeit des Auftretens eines bestimmten Verkehrszeichens innerhalb eines festgelegten Streckenabschnitts ab. Der Verlierer, d.h. der, der mit seiner Einschätzung am Weitesten danebenliegt, bekommt die Differenz zwischen tatsächlicher und prognostizierter Anzahl als Minuspunkte angerechnet. Am Ende einer Spielrunde müssen die Minuspunkte in Form eines Dienstes abgeleistet werden. Vorschlag einer handlungsorientierten Skala: 1 = Fuß, 2 = Waden, 3 = Knie, 4 = Oberschenkel, 5 = Brust, 6 = ... Was es mit der Skala auf sich hat, ist leicht zu erraten. Besagte Körperstellen muss der Verlierer über eine Zeitdistanz entsprechend der Spieldistanz beim Gewinner während der Autofahrt berühren. Der Begriff des Berührens sollte vor Spielbeginn eindeutig und unmissverständlich festgelegt werden. Anmerkung 1: Es gibt einen handfesten, signifikanten Unterschied zwischen der Brust eines Mannes und der einer Frau. Dies sollte in der Aufstellung der Skala berücksichtigt werden. Anmerkung 2: Zu Übungszwecken kann das Spiel auch ohne Spielpartner durchgeführt werden.

»Ist es dir so recht?« säuselt ihm Basta ins Ohr. Korn gurrt wie ein Taube, und das ist die Antwort. Das wässrige Grün der Wiesen spiegelt sich auf der Haube seines Alfas. Blickrichtung maximale Horizontentfernung, und drüben leuchtet die silbergraue Silhouette der Stadt.
Korn mag ihre Hände. Sie sind frech, verspielt und immer auf Abenteuer aus. »Bestimmt hab er noch eine Menge Freude an ihnen«, schmunzelt er vor sich hin, »bestimmt, und wie findest du das?«
Er geht auf ihr Spiel ein, setzt seinen Körper in Bewegung und wird ganz verrückt nach ihren Berührungen.
»Es reicht noch für ein Spiel«, bettelt er.
»Ich bin Linkshänderin, wie findest du das?«
Manchmal gelingt es Basta, Korn mit solchen Fragen in Verlegenheit zu bringen. In solchen Momenten glaubt sie an sich selbst, an ihre Anwesenheit, an ihren Körper. Warum soll sie sich minderwertig fühlen. Zwischen ihr und Korns Fantasiegeburten besteht nicht der geringste Zusammenhang. Vielleicht ist alles ganz anders und er ist eine heillose Kopfgeburt. Vielleicht. Auch das spielt keine Rolle. Immerhin ist sie Linkshänderin. Gewissen Leuten hat sie damit eine große Freunde bereitet.

Plötzlich gerät der Alfa ins Schleudern. Korn handelt instinktiv. Er überlässt nichts dem Zufall. Geschickt manövriert er sich aus der Gefahrensituation. Das Hindernis am rechten Fahrbahnrand verschwindet aus der Bildfläche. Korn tritt energisch auf die Bremse, schielt auf den Beifahrersitz. Leer. Er erinnert sich an diverse Selbstgespräche, schüttelt den Kopf und späht über seine rechte Schulter. Am rückwärtigen Straßenrand bemerkt er einen körperähnlichen Gegenstand. Er konzentriert sich, reguliert seinen Pulsschlag, würgt den Motor ab und hüpft aus dem Alfa. Er geht die Straße zurück. An den Umrissen erkennt er, dass es sich um keine menschliche Gestalt handelt. Er atmet auf und setzt seinen Weg fort. Plötzlich nimmt er ein Motorengeräusch wahr. Er dreht sich um, und sieht wie sein Alfa mit der Schnelligkeit und Gewandtheit eines Raubtiers davonbraust. Fassungslos kauert er auf der Fahrbahn und fühlt sich vollkommen unfähig, etwas zu tun.
»Basta ist nur ein Hirngespinst, eine Laune der Natur. - Einfach nur so zum Zeitvertreib. Nein, sie gibt es nicht wirklich ... - und der Alfa?«

Seine Gedanken sind wirr und unklar. Autos fahren an im vorbei. Neugierige Blicke. Seine Beine setzen sich in Bewegung, so ganz ohne eigenen Willen - ein Zeichen, Teil einer Verschwörung zu sein. Das Hindernis auf der Straße entpuppt sich als gewöhnlicher Schlafsack. Er schüttelt den Kopf und entschließt sich, in Richtung Stadt zu marschieren.
»Ich muss die Polizei alarmieren, so schnell wie möglich«, stottert er vor sich hin. »Das verdammte Handy liegt im Wagen.«
Es reicht ihm für heute. Er hat die Nase gestrichen voll.
»Verdammter Mist! – Aber auf die Polizei ist Verlass, und im Übrigen bin ich gut versichert. Ach, was soll’s, es wird schon alles klargehen.«

Wenige Meter vor dem Industriegebiet überkommt ihn ein ungutes Gefühl. Es ist weniger die Angst vor dem, was auf ihn zukommt. Vielmehr fühlt er sich als Spielball unheilvoller Geschehnisse: ein Komplott. Und dabei hat er niemandem was getan. Die Verabredung mit Ria kann er sich in den Wind schreiben. Er wollte sich mit ihr um 3 Uhr in der Akademie treffen. Diese verdammten Autofahrer. Hinter dem Industriegebiet gibt es eine kleine Polizeistation.
Plötzlich rast ein Alfa um die Kurve, und mit einem einzigen Blick erkennt er ihn. Vollbremsung. Der Alfa kommt zum Stehen. Die Beifahrertür geht auf – ein Aufforderung zum Einsteigen. Wie hypnotisiert setzt sich Korn in Bewegung und lässt sich auf den Beifahrersitz fallen.

»Mein Name ist Lisa. Kann ich für ein paar Tage bei dir wohnen? Hab gerade keine Bleibe, du verstehst.«

Korn weiß nicht, was da gerade vor sich geht. Es ist ihm eigentlich auch gleich. Die Fahrtrichtung hat sich eben geändert, nichts weiter, nur die Fahrtrichtung. Platz hat er zu Hause genug.









2



Der Weg von der Akademie zu ihrer Wohnung führt Ria quer durch die Stadt. Mit dem Fahrrad ist es ein Katzensprung. Die Abkürzung über die Fußgängerzone erspart ihr eine Menge Zeit. Auf dem Gepäckträger ist eine Mappe befestigt. Sie wirkt wie ein Segel, und der Wind bläst kräftig von Westen. Sie flucht auf die Ampel vor der Bahnhofsbrücke. Jedes mal raubt sie ihr den letzten Schwung und verbannt sie in die hintersten Ränge einer stinkenden Blechlawine. Für einen kurzen Flirt mit den netten Jungs am Steuer bleibt ihr keine Zeit. Sie hat es eilig. Peter kommt heute. Die Blechlawine setzt sich in Bewegung. An der höchsten Stelle der Brücke erfasst sie plötzlich ein Windstoß. Mit einem geschickten Ausweichmanöver versucht sie der Lage Herr zu werden. Als sie mit einer Hand nach hinten greift, ist es bereits zu spät. Die Mappe reißt sich los und fliegt mit reichlich Schwung über die Balustrade der Brücke. Vollbremsung. Sie wirft das Fahrrad auf den Gehsteig und eilt zur Balustrade. Was für eine Bescherung. Mappe und Inhalt liegen auf den Schienensträngen. Sie flucht und hält nach einer Treppe Ausschau.

Zwischenspiel 3: Sheet To Wind · How to prevent a suicide (in the season of autum), 1998 · Collagierte Papierhandtücher, Papierdrache 13 x 9 x 48 cm (Objekt 323).
Das Spiel eignet sich besonders für Stadtkinder, denn es kann nur in der Nähe eines großen Bahnhofs (genauer: an der Balustrade eines über eine größere Anzahl von Schienen reichenden Bahnübergangs) durchgeführt werden. Ein reger Zugverkehr und die Jahreszeit des Herbstes sind von Vorteil, denn jeder vorbeifahrende Zug eröffnet eine neue Spielrunde.
Anmerkung 1: Wer sich während des Spiels zu weit über die Balustrade wagt, gefährdet den Spielverlauf, da tödliche Unfälle in der Regel zum Spielabbruch führen. Mit dem Auftauchen von Selbstmördern ist zu rechnen, da sie besagte Ort mit signifikanter Häufigkeit aufsuchen.
Mehrere Spieler/innen postieren sich entlang der Balustrade der Bahnüberführung. Jeder erhält mehrere Stapel Papierblätter, die sich in ihrer Farbgebung von Spieler zu Spieler unterscheiden. Während des gesamten Spielverlaufs ist somit eine eindeutige Zuordnung zwischen Spieler/innen und Blatt gewährleistet.
Jetzt heißt es warten bis ein Zug kommt. Ein Zug, der sich von hinten nähert und sich unterhalb der Brücke in das Beobachtungsfeld der Spieler/innen hineinbewegt, eröffnet die Spielrunde. Die Spieler/innen dürfen jetzt eines ihrer Blätter über die Balustrade werfen - bevor oder während der Zug vorbeifährt. Gewonnen hat der, dessen Blatt durch den Fahrtwind am weitesten mitgerissen wird. Maßgeblich für die Weite ist der Ort der ersten Bodenberührung. Blätter, die sich im Zug verfangen und mit ihm auf und davongehen, sind als Volltreffer zu werten.
Anmerkung 2: Selbstmörder, die ihren Tod auf Schienen oder im Sprung von Bahnüberführungen suchen, sind in der Regel an ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen. Es ist nicht falsch, sie beiläufig ins Spielgeschehen mit einzubeziehen - als Mitspieler, Schiedsrichter, Blatteinsammler. Das Gefühl gebraucht zu werden, lässt sie ihr Vorhaben mitunter vergessen.

Fluchend steigt Ria die eiserne Treppe zu den Schienen hinab. Hastig sammelt sie Blatt für Blatt ein – kein Zug, der sie stört. Sie hat das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Leichtfüßig wie eine Katze macht sie sich aus dem Staub. Es ist nochmals alles gut gegangen, sie atmet auf. Oben auf der Brücke bemerkt sie eine Person, die sich an ihrem Fahrrad zu schaffen macht.
»He, Sie da! Finger weg von meinem Fahrrad?«
Sie eilt auf die Person zu und ist plötzlich wie vor den Kopf gestoßen. Ein junger Mann mit hellen, leuchtenden Augen steht schüchtern vor ihr, und sie hat das Gefühl, ihn zu kennen. Er reicht ihr das Fahrrad, ohne ein Wort zu sagen.
»Danke, vielen Dank,« stottert sie einsilbig vor sich hin. »Ich dachte schon, ... «
Das Geschrei von spielenden Kindern hallt von einem naheliegenden Häuserblock herüber. Es verfängt sich zwischen den Schienen und verstummt abrupt.








3



Zwischenspiel 4: MDY Or The Process, 2000. · Video, 60 min. · Oder: Wer fürchtet sich vor dem Schwarzen Mann? M. kann durch Wände gehen, so einfach hindurch. Immer wenn sie durch Wände geht, werden ihre Augen feucht, sie kann nichts dagegen tun. Sie fühlt sich wie ein Gebirge. Ein Mann kommt auf sie zu, kniet vor ihr nieder und legt seinen Kopf sanft an ihre Brust. Draußen Regen. Die Straßen entlang. Westen. Eine Menge Gesichter. Radio. Der Präsident spricht, und der Mann hat noch immer seinen Kopf an ihrer Brust. Schatten unter den Bäumen. Auf dem Boulevards Autos. Das Dienstzimmer ist geschlossen. Hinter der nächsten Tür ein Highway, Yosemite, Bishop, Death Valley, Nevada, Arizona. So geht es unentwegt weiter, und immer weiter, Straßen ohne Ende. Sie fürchtet sich nicht, M. fürchtet sich nicht vor dem Schwarzen Mann: Das Spiel eignet sich für jedes Alter. Es wird bevorzugt im Freien durchgeführt. Zunächst wird durch einen Abzählreim der „Schwarze Mann“ bestimmt: Zickezacke, Zinken. / Ich werd’ pinkeln. / Wer am schnellsten pinkeln kann, / der fängt an. Mit Kreide oder Sägemehl werden 2 Kreise von ungefähr 5 m Durchmesser markiert. Die Kreise liegen einige Meter auseinander. In dem einen befinden sich die Mitspieler. Der Schwarze Mann bezieht dem Raum zwischen den Kreisen. »Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann?« ruft jener seinen Mitspielern zu. »Niemand!« schallt es herüber. Die Mitspieler versuchen nun, den gegenüberliegenden Kreis zu erreichen. Dort kann ihnen der Schwarze Mann nicht mehr gefährlich werden. Wer gefangen wird, muss bei der nächsten Spielrunde dem Schwarzen Mann assistieren. Sieger ist der, der zuletzt gefangen wird.

Peter Korn zählt sich zu denen, die sich nicht so leicht einfangen lassen und die über den Westen Bescheid wissen. Er kennt da jemanden, der im Westen groß geworden ist, jemanden wie M., aber es ist nicht M. Das Telefon klingelt.
»Lisa, mach bitte die Musik etwas leiser, das Telefon!«
»Bin unter der Dusche, kann gerade nicht!«
In den zurückliegenden Tagen hat sich viel ereignet. Lisa wohnt seit dem Tag des merkwürdigen Zwischenfalls auf der Landstraße bei ihm. Er stieg damals zu ihr ins Auto. Er weiß nicht mehr, was für ein Auto es war – ein Alfa vielleicht. Er möchte nicht darüber nachdenken, die Geschichte langweilt ihn. Seine Wohnung ist groß genug. Wenn es darauf ankommt, kann er Ria alles erklären. Lisa macht ihm keine Umstände.

Zwischenspiel 5: The Nest Is A Dog-House. That man’s best friend. · Nest = Nest = (Awful Hole) I und II, 1998/2000 (Objekt 326/358) · Vogelhäuschen, Nest, koloriertes Moos, Papier, Pigmente, Eierbecher · 29 x 18 x 23 bzw. 13 x 13 x 10 cm. Wir kamen aus dem Hard Rock Cafe, 57th Street, Manhattan. Eigentlich wollten wir in eine Ausstellung im Cooper-Hewitt Museum, einem Design-Museum des Smithsonian Instituts, 5th Avenue. Der Ausstellungstitel lautete »Doghouse - that man’s best friend«. Ich trug eine verbeulte Jeans und ein weißes Hemd mit Krawatte, mein Freund einen dunklen Anzug. Wir machten zunächst noch einen kleinen Abstecher zum Central-Park.
In der Ferne bemerkten wir einen großen Menschenauflauf: Polizei, Sprungtücher, Feuerwehr, Blaulicht - hektische Betriebsamkeit. Ein junger Mann, der wie ein Affe im Wipfel eines hohen Baumes hing, schrie mit einem Megaphon in die Menge, beschimpfte sie und setzte zum vermeintlich tödlichen Sprung an. Plötzlich stürzte sich ein Vogel auf den Krakeeler. Der ließ sein Megaphon fallen und klammerte sich krampfhaft am Baum fest. Ein Raunen ging durch die Menge. Immer wieder griff ihn der Vogel an, stach mit seinem Schnabel auf Brust und Hände des jungen Mannes ein und zwang ihn zum Rückzug. Unten wurde er von Sanitätern empfangen. Die Menge raunte, Hunde bellten. Mein Freund und ich warfen nochmals eine Blick nach oben. Der Vogel saß in seinem Nest auf dem Dach eines kleinen Vogelhäuschens mit der Aufschrift »100«.

»Heute Abend. So gegen Neun. – Besuch? – Nein, wie kommst du darauf? – Also, bis dann, Ria.«
Korn legt den Hörer auf. Er zündet sich eine Zigarette an und lässt sich auf die Couch fallen. Er muss sich erst daran gewöhnen, dass sich jemand in seiner Wohnung aufhält. Lisa ist ziemlich unkompliziert, bislang jedenfalls.
»Weißt du, es sind die Schuhe, auf die es ankommt, ganz und gar die Schuhe. – Du wirfst einen Blick auf die Schuhe und sie offenbaren dir ganze Person.«
»Schuhe? – Klingt wie ein Ratschlag meines Großvaters.«
»Ich hab’s gelesen. In irgend einer Illustrierten. Hat Hand und Fuß, ist irgendwie logisch. Da sind Leute am Werk, die was davon verstehen. Psychologen und so, glaub mir. Frauen, die häufig Stöckelschuhe tragen, sind was für’s Bett, aber im Haushalt taugen sie nichts.«
»Wie gesagt, kling ganz nach meinem Großvater.«
»Außerdem betrügen sie ständig ihre Partner.«
»Mit dem Briefträger, in erster Linie mit dem Briefträger, du Spinner.«
»Klar, hört sich zunächst nach einem billigen Klischee an, aber Tatsache ist, Stöckelschuhe ruinieren Parkettfußböden, und das sagt eine Menge. Außerdem gibt es Untersuchungen, Statistiken, signifikante Zusammenhänge zwischen Stöckelschuhen und Essgewohnheiten.«
»Und die wären?«
»Frauen, die häufig Stöckelschuhe tragen sind so gut wie niemals Vegetarier. Und von Kochen keine Spur. Ihre Küche ist das Restaurant, und sie bezahlen nicht mal, -finden immer einen Dummen, der sie einläd.«
»Das war bestimmt keine Frauenillustrierte.«
»Spielt keine Rolle.«
»Und was fällt dir zu Turnschuhen ein?«
»Da gibt es einen Unterschied zwischen denen, die sportlich elegante Turnschuhe tragen, und denjenigen, die Turnschuhe als Gesundheitsschuhe missbrauchen.«
»Und der wäre?«
»Letztere bevölkern das Bad mit Medikamenten und halten sich deutlich häufiger im Schlafzimmer auf, denn das Schlafzimmer wird zum Krankenzimmer, das Bad zum Medizinschrank und Bettgeschichten spielen sich nur innerhalb festgelegter Zeitpläne ab, einmal in der Woche oder so. Ist nicht gerade berauschend, wenn du so eine abbekommst. Sie hat in der Regel keinen Führerschein, und du wirst sie auch schwerlich wieder los. Aber immerhin scheint das Kochen in der Küche gut zu funktionieren. Auch im übrigen Haushalt übernehmen sie eine führende Rolle, so der Artikel. Und außerdem denken sie immer ans Heiraten.«
»Und die andern?«
»Also die, mit den eleganten, modischen Turnschuhen, essen wenig, lassen sich aber gern bekochen, sind beweglich, interessiert, flexibel - in jeglicher Richtung. Kneipen, Theater, Kino, Bücher, Sex. Sie lassen überall ihre Bücher herumliegen, lesen keines zu Ende und sind ehrgeizig. Sie reden unentwegt vom Studium, auch im fortgeschrittenen Alter, auch wenn sie nie studiert haben.«

Lisa betritt das Wohnzimmer. Ihre goldenes Haar tänzelt lässig auf ihrer Schulter. Sie trägt ein weit ausgeschnittenes T-Shirt, und sie hat diesen verführerischen Blick. Korn verstummt. Ihre Erscheinung bringt ihn in Verlegenheit.
»Du bist plötzlich so still, ist was?«
»Nein. – Ach ja, da fällt mir ein, ich muss heute Abend weg, hab um Neun ne Verabredung. Willst du mit mir in die Stadt? Kann dich mitnehmen, wenn du willst.«
»Mal sehen. – Bis dort hin haben wir noch etwas Zeit. Wie war das mit den sportlichen, eleganten Turnschuhen und dem Sex?«
»Flexibel, ich weiß nur was von flexibel.«
»Na ja, das ist doch schon was.«






Fortsetzung